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Biografie
Vierter Teil

1943-1974

Etablierung in der neuen Heimat

 

An den Ersten Pulten des Tonhalle-Orchesters

Begegnung mit Dirigenten / Begegnung mit Léhar (als Orchestermusiker)

Dirigent von eigenen Orchestern

SMPV: Ruedi Lutz und Franz Tischhauser

Leben und Wirken in St. Gallen

Willy Heinz Müllers Assimilierung in St. Gallen gelang dank seiner vielfältigen Talente und Tätigkeiten so gut, dass der Österreicher mitten im Zweiten Weltkrieg als besondere Auszeichnung eingebürgert wurde. Am 11. Mai 1943 erhielt er die Staatsbürgerschaft der Stadt St. Gallen. Die dafür notwendige hohe Summe von Fr. 2000.- hatte ihm die mit den Müllers befreundete einheimische Claire Früh als Darlehen vorgestreckt, welches er in zwei Raten im Februar 1947 und im Juli 1948 zurückzahlte.

Seine universalen Fähigkeiten als Musiker und Komponist, die er sich in Wien erarbeitet hatte, konnte Müller in St. Gallen souverän umsetzen. Als Geiger an den ersten Pulten beim Tonhalleorchester erlebte er zahlreiche Sternstunden, darunter einen Galaabend mit dem persönlich anwesenden Franz Léhar, sowie weitere Konzerte unter so bedeutenden Dirigenten wie Ernest Ansermet, André Cluytens oder Karl Schuricht. Bei regelmässigen Auftritten mit seinen SMPV-Schülern demonstrierte er, «wie allgemein fördernd der Musikunterricht sein kann», so sein Credo, das in die Breite wie in die Spitze wirkte. Als Grundlage dafür galt ihm die Notwendigkeit eines «gut gebildeten Lehrerstandes» und das Bewusstsein, auch Kindern aus ärmeren Verhältnissen das Musizieren zu ermöglichen. Eine fortschrittliche Denkweise, die er auch öffentlich vertrat, wie eine Zeitungsreportage dokumentiert.

Unter den Schülern von Willy Müller, die eine Berufslaufbahn einschlugen, waren der Organist, Pianist und Dirigent Ruedi Lutz und der Pianist und Komponist Franz Tischhauser. Beide Musiker erhielten bei Müller, der als Pädagoge seine Schüler ausserordentlich streng unterrichtete und enorm viel von ihnen verlangte, bis zur Matura eine solide Grundausbildung. Schon früh durften sie Stücke aus der Romantik und dem Impressionismus spielen. Auch erste kompositorische Gehversuche konnten die beiden Jugendlichen ihrem Lehrer zeigen und erhielten kompetente Kommentare.

Ein Leitstern war stets Johann Sebastian Bach, dessen Werk Müller umfassend kannte. Nach dem Weltkrieg gab er gar Konzerte mit dem Leipziger Bach-Kantor Günther Ramin, was für sein Wissen um Bachs Werk spricht. Der Bach-Spezialist Ruedi Lutz kam dank seinem Lehrer schon früh in Berührung mit dem Werk von Johann Sebastian Bach, wenn auch in einer romantisierenden Art, die heute überholt ist. Die Musik des damals noch nicht so umfassend bekannten Barock-Meisters lässt ihn bis heute nicht los.

Willy Müllers Tochter Edith Leibundgut wurde Violinistin, bei der schon in jungen Jahren die «Eleganz» und «Sicherheit» ihres Spiels gelobt wurden, was wiederum auf die Qualitäten ihres Vaters verweist. Deren Enkelin Mélanie Adami setzt nun die Familientradition als Berufsmusikerin fort. Aber auch bedeutende Laienmusiker nahmen bei Müller Unterricht, so der spätere Bundesrat Kurt Furgler. Krönender Abschluss des Jahres bildete jeweils die traditionelle Weihnachtsfeier im Hause Müller, bei der sich die aktuellen Schüler und Schülerinnen versammelten und den anwesenden Eltern ein Stück vorspielten. Für Viele, ob Berufsmusiker wie Ruedi Lutz oder Laien, unvergessliche Erlebnisse. Als krönenden Abschluss spielte Willy Müller jeweils persönlich auf seinem Grotrian-Flügel das Bach’sche Stück «Jesu, meine Freude», welches der Pianist Dinu Lipati bis zu seinem frühen Tod als Zugabe gespielt hatte.

Neben seiner Tätigkeit als Pädagoge leitete Willy Heinz Müller die Orchestervereine in Trogen und Teufen und gründete und dirigierte in Winterthur bis kurz vor seinem Tod das Kammerorchester Winterthur. Seine Tochter Edith Leibundgut war dessen zuverlässige Konzertmeisterin. Mit dem Winterthurer Orchester führte er mit grossem Erfolg Werke vom Barock, über die Klassik bis zur Spätromantik und dem Klassizismus auf. 

Willy Heinz Müller wurde in St. Gallen als Universalist geschätzt, der als Kapellmeister, Pianist, Violinist, Gitarrist, Theorielehrer, Komponist und hochgeschätzter Musikpädagoge bleibende Spuren hinterlassen hat. Ein Zeitzeuge würdigt sein Wirken: «Seine ausgesprochene Musikalität und seine Fähigkeit, Anregungen und Wegweisungen für Suchende zu bieten, seine strahlende Lebensfreude trotz mancherlei Enttäuschungen und seine Ursprüngliche Anmut mit wienerischem Humor ebneten ihm den Weg zum Mitmenschen.» 

Willy Müller starb im September 1974 in St. Gallen, seine Lied-Partituren verschwanden in einem Schrank, bis seine Urenkelin Melanie Adami sie 2021 wiederentdeckte und nun einen Teil davon auf CD einspielte.

Verena Naegele

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