Biografie
Zweiter Teil
1918 - 1926
Die Nachkriegsjahre
Paula Hermann
Entschluss, sich ganz der Musik zu widmen
Ernst von Dohnanyi (Was weinst du meine Geige)
Armut und Arbeitslosigkeit in Wien / Gang nach Nürnberg
Frühe Klavierlieder
Die Nachkriegsjahre
Die Nachkriegsjahre waren schwierig. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde aus der mächtigen kaiserlichen österreichisch-ungarischen Reichshauptstadt Wien die Kapitale eines republikanischen Kleinstaates, es herrschte Hunger und Armut und jede Kulturtätigkeit war eine brotlose Angelegenheit. Trotzdem fand Willy Müller bei den Wiener Symphonikern, die Ferdinand Löwe 1900 gegründet hatte, als Geiger Unterschlupf. Auch beim Tonkünstlerorchester unter der Leitung seines ehemaligen Lehrers Hermann von Schmeidel konnte er mitwirken und diesen ab und zu gar als Dirigenten vertreten.
Es war für Willy Müller eine Zeit nachhaltiger Ereignisse, er spielte ebenso unterhaltende Wiener Musik in Kurorchestern wie die grossen Werke der Literatur. Unter Löwes Leitung, einem Experten der Musik von Anton Bruckner, spielte er dessen Achte Sinfonie und mit dem Tonkünstlerorchester erlebte er den ungarischen Komponisten und Pianisten Ernst von Dohnanyi, welcher der Kulturwelt seiner Mutter entstammte.
Ernst von Dohnanyi (1877-1960) gehörte zu einer ungarischen Komponistengeneration, die noch stark im 19. Jahrhundert verwurzelt war. Dies gilt insbesondere für die 1905/1906 entstandenen Klavierlieder op. 14 auf Gedichte seines Freundes Victor Heindl, die der romantischen Liedtradition Schumanns und Brahms verpflichtet sind. Dohnanyis Lieder strahlen aber auch eine geschmeidige Eleganz aus. Charakteristisch dafür ist das zwischen Melancholie und Trotzt changierende «Was weinst Du, meine Geige», welches Willy Müllers damalige Situation spiegelt: Seine Geige war stets der treue Begleiter in schwierigen Zeiten.
Ein erhalten gebliebenes Erinnerungsbuch von Willy Müller aus dieser Zeit enthält neben Ernst von Dohnanyis Eintrag weitere Widmungen bedeutender Künstler wie dem ungarischen Komponisten und Geiger Yenö Hubay, Franz Schalk, Richard Strauss, oder Wilhelm Furtwängler und Leopold Reichwein. Letztere waren von 1921 bis 1927 gemeinsam die Konzertdirektoren der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und dirigierten oft Mahler und Bruckner. Und unter der Leitung von Bruno Walter spielte Willy Müller gar in der 2. Sinfonie von Gustav Mahler mit.
Doch die einsetzende Wirtschaftskrise erreichte auch das gebeutelte Wien, die Konzertsituation wurde immer schwieriger. Die Orchester mussten aus Spargründen reihenweise Musiker entlassen, zuerst traf es die jungen, zu denen auch Willy Müller gehörte. Dies berührte den 23jährigen Musiker umso mehr, als er sich in die Näherin Paula Herrmann verliebte, die er bei einem Gastspiel der Sinfoniker in Berchtesgaden kennengelernt hatte und heiraten wollte.
Doch um eine Familie gründen zu können, brauchte Müller ein regelmässiges Einkommen, weshalb er dank seines Handelsabschlusses in Nürnberg in der «Carl Schimpf Kunstanstalt für Abziehbilder» eine Stelle annahm. Trotz anstrengender Arbeitstage widmete er sich weiterhin der Musik, spielte auf seiner Geige und nahm Unterricht bei Karl Scharrer, dem städtischen Kapellmeister in Nürnberg. Um die langen Zeiten der schmerzlichen Trennung von seiner in Wien verbliebenen Verlobten Paula zu verarbeiten, komponierte Willy Müller in dieser Zeit, offensichtlich inspiriert von der Passion seiner Mutter für diese Gattung, eine Reihe von Werken, darunter die Klavierlieder op. 7 und op. 9.
Willy Müllers frühen Klavierlieder
Die Lieder, die Willy Müller 1921 und 1923 komponierte, strahlen einen Hauch von Traurigkeit, aber auch von Sehnsucht aus. Es scheint, als wenn hier die Welt des Abschieds und der Liebe, wie sie etwa Gustav Mahlers Musik beinhaltet, mit Müllers Seelenlage dieser Zeit einen Pakt eingegangen wären. Die elegische Note von «Träume» und «Schliesse mir die Augen» auf Texte von Rainer Maria Rilke und Theodor Storm sind zwar noch von der Musikwelt Wiens geprägt, finden aber durch ihre Dichte und harmonischen Besonderheiten zu individuell-eigenwilliger Intensität. Sie hängen auch mit der Liebe zu seiner späteren Ehefrau Paula zusammen, der er 1933, also bereits in St. Gallen, ein weiteres Lied voller Poesie «Von unserer Liebe» gewidmet hat.
Nach langem Ringen entschloss sich der totunglückliche Willy Müller dank tatkräftiger Unterstützung seiner Verlobten, sich trotz fehlender Perspektive ganz der Musik zu widmen, koste es, was es wolle. Um sich bewerben zu können, holte er bei so bedeutenden Dirigenten wie Hermann von Schmeidel, dessen Nachfolger Anton Konrath oder Ferdinand Löwe Bewertungen seiner musikalischen Leistungen ein, die allesamt sehr lobend ausfielen.
Willy Müller hatte sich nicht nur als Orchestermusiker und Dirigent bewährt, sondern auch als Arrangeur. So hat sich aus dieser Zeit die Partitur einer «Fantasie über Motive aus Hänsel und Gretel» von Humperdinck erhalten, die von Willy Müller für kleines Orchester eingerichtet ist.